30. Sitzung – Das strukturelle, fachliche und analytische Versagen des Verfassungsschutzes

Lübcke-Mord

Die Sitzung am 8.6.2022 befasste sich mit der Beurteilung der Gefährlichkeit von Stephan Ernst und Markus H., der Einschätzungen „abgekühlt“ und „brandgefährlich“ sowie der Löschung ihrer Personenakten.

 

Dr. Alexander Eisvogel – Ehemaliger Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (2006-2010)

Herr Eisvogel begann seine Aussage mit einer kritischen Beurteilung des LfV zu seiner Dienstzeit. Es habe an operativen Ansätzen, an Urlaubsvertretungen, an Analysespezialist:innen im Bereich Rechtsextremismus, an professionellem Informationsmanagement und an aussagefähiger Aktenführung sowie an Zusammenarbeit der Dezernate Auswertung und Beschaffung gefehlt. Außerdem habe es keine Aus- oder Weiterbildung der Mitarbeitenden gegeben. Er schloss mit der Erkenntnis, Verwaltungsangestellte seien zur Verwaltung, aber nicht für nachrichtendienstliches (ND) Handwerk befähigt. Die Ausbildung per „Training on the Job“ durch Personen, die selbst keine Ausbildung hatten, sei unzureichend gewesen.

Der Einblick seiner Behörde in die nordhessische Extreme Rechte sei nicht ausreichend gewesen. Erkenntnisse habe es nur von NPD Treffen gegeben, am Rande sei manchmal etwas zur lose strukturierten Szene (z.B. Kameradschaftsszene) angefallen. Auch antifaschistische Rechercheergebnisse seien einbezogen worden. Selbstkritisch stellte Eisvogel fest, das LfV sei „nicht offen, nicht flexibel, nicht agil genug“ gewesen, um die Extreme Rechte nicht als dumme, ständig alkoholisierte Gewalttäter zu verharmlosen. Solche Fehler seien durch monokausale Denkweisen entstanden.

Seine Anmerkung in einem Vermerk aus dem Jahr 2009, in dem er Stephan Ernst als „brandgefährlich“ einschätzte, erklärte er durch die Betrachtung von dessen Vita und Vorstrafen. Besonders eindrücklich seien der Totschlag und das Sprengstoffdelikt in den 90ern gewesen, bei denen „Ausländerhass“ explizit das Motiv war. Der Vermerk habe nur die Hauptakteure der Szene benannt – darunter Stephan Ernst und Markus H. Es habe sich die Frage gestellt, inwiefern Ernsts Gefährlichkeit noch aktuell sei, um über die Priorisierung von ND-Maßnahmen zu entscheiden; deshalb die Frage „wie militant ist er aktuell?“.

Die später – primär durch Innenminister Beuth transportierte – Einschätzung, Ernst sei „abgekühlt“ gewesen, wies Eisvogel weit von sich. Nirgendwo in den Akten habe er eine solche Bewertung gelesen – so etwas hätte er zu seiner Zeit auch strikt widersprochen: zu unterkomplex. Ein Rückzug sei kein Ausstieg und „Rechtsextremisten“ kühlten auch nicht einfach so ab. „Rechtsextremismus“ und „Fremdenhass“ seien starke intrinsische Motivationen, der tiefsitzende Hass bleibe. „Auch wenn man Kinder bekommt, Häuser baut… Auch die schlimmsten Nazis waren Familienväter.“ Strategien des „führerlosen Widerstands“ seien bereits damals hinlänglich bekannt gewesen. Spätestens nach der Selbstenttarnung des NSU hätte außerdem ein strategischer Szenerückzug in Betracht gezogen werden müssen.

Obwohl der Zeuge vom konkreten Vorgang der Aktenlöschungen von Ernst und H. keine Kenntnis hatte, führte er grundsätzliche Kritik an. Es werde zu oft nach „Schema F“ gearbeitet und keine Recherche angestellt. Es sei nur eine „Bringschuld“ bei anderen, nicht eine „Holschuld“ bei sich selbst gesehen worden. Er betonte, dass eine Akte nach fünf Jahren geprüft werden müsse – dabei könne man sich so anstrengen, wie man es für richtig halte.

 

Frau S. - Dezernatsleiterin (2015-2016) und (Abwesenheitsvertretung der) Abteilungsleitung (2016-heute) im Bereich Rechtsextremismus beim Landesamt für Verfassungsschutz

Frau S. verwies hinsichtlich der Löschung der Personenakte von Markus H. darauf, dass es keine materiellen Erkenntnisse in der Akte mehr gegeben habe, die jünger als fünf Jahre gewesen seien. Es sei nicht feststellbar, was im Gehirn einer Person vorgehe und ob die Ideologie noch bestehe oder sich die Person gelöst habe. Eigene Recherchen zu Aktivitäten habe sie nicht angestoßen. Inwiefern das von der Sachbearbeitung übernommen wurde, konnte nicht abschließend geklärt werden. Auf die Frage, wieso Prüfkriterien wie Gewalttätigkeit und Führungsfunktion in der Szene nicht einbezogen worden seien, erwidert Frau S., es sei damals noch nicht so gedacht worden. Das wundert uns: Die Kriterien wurden nämlich vor ihrer Amtszeit formuliert. Bei uns entsteht der Eindruck, dass eine Verlängerung der Speicherfrist für das LfV schlicht keine denkbare Option war/ist. Auf unseren Vorhalt, in dem behördenintern eingestanden wird, dass es sich bei einigen Aktensperrungen um ein „Büroversehen“ gehandelt habe und die Frage, ob davon die Akten von Ernst, H. oder Umfeldpersonen betroffen seien, kann Frau S. nichts sagen. Das unterliege dem Datenschutz.

Die Bearbeitung im Jahr 2016 entspricht also dem düsteren Bild, das der ehemalige Präsident Eisvogel bereits zum Umgang mit Akten zehn Jahre zuvor zeichnete. Wir sind entsetzt, dass bei der Einschätzung der Gefährlichkeit von Markus H. nicht beachtet wurde, dass dieser über einen legalen Waffenzugang verfügte, dass er seit 2003 auf dem Portal eGun mit Waffenteilen und –werkzeugen handelte, dass er seit 2008 in einem Schützenverein aktiv war. Auch dessen Szeneeinbindung und die Selbstbezeichnung als „Führer der Autonomen Nationalisten“ mit bundesweiten Kontakten blieben unberücksichtigt. Trotz angeblich durchgeführter Internetrecherche war dem LfV außerdem entgangen, dass Markus H. seinen Youtube-Account mit rechtsextremistischen Inhalten bis 2013 weiterführte und zum Zeitpunkt der Aktenlöschung bereits einen neuen Account „Professor Moriatti“ erstellt hatte. Mit diesem hatte H. wenige Monate vor der Löschung seiner Akte das Video von Walter Lübcke bei der Bürgerversammlung, die Markus H. mit Stephan Ernst und führenden Köpfen von KAGIDA besuchte, hochgeladen und damit die Hetzkampagne gegen Lübcke initiiert.

 

Frau B. – langjährige Mitarbeiterin im Landesamt für Verfassungsschutz, Sachbearbeiterin der Auswertung (2012-2016), stellvertretende Abteilungsleitung (2016-2019) im Bereich Rechtsextremismus

Frau B. war sowohl mit der Aktenlöschung von Stephan Ernst befasst, die über eine Liste ablief, als auch als Dezernatsleitung für die Sperrung der Akte H.s. Beide Personen seien ihr gänzlich unbekannt gewesen, da weder Nordhessen noch die entsprechenden rechten Szenen ihr Gebiet gewesen seien.

Die Löschung nach Liste habe keine inhaltliche Prüfung der Speicherwürdigkeit umfasst. Ihre Aufgabe sei lediglich gewesen, die formale Korrektheit der Liste zu prüfen, um anschließend die Akten frühestmöglich zu löschen. Im Fall von Ernst bedeutete das: Zu gucken, ob er und die weiteren 150-200 Personen auf der Liste auch wirklich keine Erkenntnis jünger als fünf Jahre aufwiesen. Dazu sei lediglich der Datensatz in der Amtsdatei aufgerufen und das letzte Erkenntnisdatum angeschaut worden. Es habe keine Prüfung der Akte, keine Bewertung der Gefährlichkeit gegeben. Die Anmerkung „brandgefährlich“ sei ihr nicht bekannt gewesen.

H.s Akte sei hingegen nach einer Einzelfallbearbeitung durch eine Kollegin intern gelöscht worden. Sie habe den Löschvorschlag entsprechend der vorliegenden Unterlagen bewertet und unterzeichnet, aber nichts selbst geprüft. Da es seit fünf Jahren keine neuen Erkenntnisse gegeben habe, sei die Akte intern gelöscht worden. Der vereinfachte Sperrvermerk, der hier angewendet worden sei, habe ebenfalls keine Prüfung der P-Akte umfasst – lediglich der Datensatz in der Amtsdatei sei angeguckt worden. Den legalen Waffenzugang des H. bewertete Frau B. mit einem Schulterzucken – was solle das LfV machen, wenn ein Gericht das so entscheide.

Wir empfehlen: Den Gerichten verwertbare Informationen zukommen lassen, recherchieren und weniger V-Leute schützen.