33. Sitzung – Akte Ernst trotz Widerspruch im Schnellverfahren gelöscht

Torsten FelstehausenLübcke-Mord

In der 33. Sitzung wurde erneut die Thematik des Löschmoratoriums sowie die Löschung der Akte Ernsts aufgegriffen. Es wurde insbesondere die Zeuginnenaussage von Frau R. (31. und 32. Sitzung), sie habe die Akte von Stephan Ernst geprüft und versucht, die interne Löschung zu verhindern, durch weitere Aussagen von Kolleg:innen geprüft und verifiziert.


Roland Desch – ehem. Präsident des LfV (2010-2015)

Herr Desch betont zunächst, die Namen von Stephan Ernst und Markus H. nicht gekannt zu haben. Das ist beunruhigend, da sie zu Beginn seiner Amtszeit noch zu den wichtigsten Kadern der nordhessischen Extremen Rechten gezählt wurden. Stephan Ernst sei im geheimen NSU-Aktensichtungsbericht zwar virulent geworden, allerdings habe Desch sich nicht mit ihm befasst. Die „brandgefährlich“ Notiz seines Vorgängers Eisvogel sei ihm ebenso wenig bekannt, wie eine etwaige Antwort auf die Frage „wie militant ist er aktuell?“ – eine Übergabe in dem Sinne habe es nicht gegeben. Dass Ernst aufgrund von Fehlern des Landesamts aus der Beobachtung genommen wurde – Informationen zu Demonstrationsteilnahmen waren nicht eingepflegt, auf Bildern extrem rechter Veranstaltungen wurde er nicht erkannt, Bewaffnung und Schießtraining blieben unbemerkt und die neue politische Heimat in Form von KAGIDA und AfD wurde verharmlost –, scheint ihn nicht zu bekümmern. Bei der Erteilung der Waffenbesitzkarte von Markus H. kann er keine Fehler seiner Behörde erkennen, obwohl weder Informationen von V-Leuten noch Interneterkenntnisse zu Markus H., die den legalen Waffenzugang womöglich hätten verhindern können, an die Waffenbehörde weitergeleitet wurden.

Wir halten ein Schreiben des damaligen Innenministers Rhein an den damaligen Datenschutzbeauftragten Ronellenfitsch vor, in dem letzterer für Zustimmung zu einem Löschverfahren gebeten wird, bei dem jede Akte über den Tisch des LfV-Präsidenten Desch ginge. Desch verneint das im Schreiben beschriebene Procedere, er habe nie Akten geprüft. Wie es zu einer solchen Fehlinformation des Datenschutzbeauftragten kommen konnte, werden wir erfragen.


Michael W. – pensionierter Mitarbeiter des LfV Hessen

Laut der Aussagen von Frau R. habe der Kollege W. sich lautstark über die anstehende interne Löschung der Akte von Stephan Ernst echauffiert, woraufhin sie eine Prüfung vorgenommen und Widerspruch geäußert habe (Sitzung 31 und 32). Herr W. konnte den Vorgang bestätigen.

Doch im Einzelnen: Aus einer früheren Befassung sei ihm Ernst bekannt gewesen. Im Rahmen einer Vorprüfung habe W. auf einem Ausdruck der Amtsdatei NADIS für die zuständige Sachbearbeitung notiert, wieso die Akte nicht gelöscht werden solle (Gewalttäter, Straftäter, NPD, Demoteilnahmen). Der Ausdruck sei aber mit dem Votum „löschen“ von der Sachbearbeitung zurückgekommen. Darüber habe sich W. geärgert und mit Frau R. unterhalten, die wiederum im Rahmen des Listensperrverfahrens erneut Widerspruch gegen die Aktenlöschung formulierte. Was dann passiert sei, könne W. nicht sagen – aufgrund fehlender Zuständigkeit habe er den Vorgang nicht weiterverfolgt.


Mitarbeiterin des LfV – ehem. Kollegin von Frau R.

Die Zeugin bestätigt die Ausführungen von Frau R., wonach sie sich in abstrakter Form über Möglichkeiten unterhalten hätten, gefährliche und gewalttätige Personen, die aber wenig wahrnehmbare Aktivitäten aufwiesen, in der Speicherung zu halten. Sie habe einen ähnlichen Fall gehabt, weshalb sie darüber gesprochen hätten. Die Zeugin macht deutlich, keinerlei Zweifel an den Ausführungen Frau R.s zu haben, da sie immer akribisch, fundiert und dabei rechtskonform, wertneutral, mit hoher Aktentransparenz arbeite.


Dr. Iris Pilling – (ehem.) Abteilungsleiterin im Bereich Rechtsextremismus im LfV

Frau Pilling gab sich erstaunlich selbstkritisch hinsichtlich der früheren Praxis bei Aktenlöschungen. Es sei zu sehr nach Aktenlage entschieden und nicht für neue Erkenntnisse recherchiert worden. Als im Sommer 2014 aufgrund eines fiktiven Verlängerungsdatums von Datensätzen zeitgleich über 1000 Akten zur Prüfung anstanden, wurde ein vereinfachtes Listenverfahren eingeführt, um automatisierte Löschungen zu verhindern. Das Ende der Speicherfrist der Akte Ernsts fiel zwar nur zufällig in diesen Zeitraum, bedeutete für die Akte aber die Prüfung anhand des Listenverfahrens. Frau Pilling bezeichnete die Entscheidung zur internen Löschung als „Malheur“ und „Fehleinschätzung“, die im Nachhinein nicht verzeihlich sei. Die Akte wäre womöglich weitergeführt worden, wenn Ernst als Einzelfall und nicht als Liste geprüft worden wäre. Uns irritiert die verharmlosende Formulierung „Malheur“, da das LfV hier als „Frühwarnsystem“ und „Schutz der Verfassung“ kläglich versagte.

Wie durch einen Vorhalt von Torsten Felstehausen bekannt wurde, lagen der Polizei zu Stephan Ernst Informationen zur Teilnahme am sogenannten „Trauermarsch“ in Dresden im Februar 2010 vor. Wären diese in die Akte des Verfassungsschutzes eingepflegt worden, hätte dies eine Speicherung bis Anfang 2015 gerechtfertigt und somit eine Einzelfallprüfung für die Akte Ernsts bedeutet. Neben der Teilnahme an einer Sonnenwendfeier der Extremen Rechten sowie Teilnahmen bei AfD und KAGIDA ist nun eine weitere Aktivität von Stephan Ernst bekannt, die dem Verfassungsschutz mit fatalen Folgen entgangen ist.


An dieser Stelle Grüße an Frau Dr. W. im Landesamt für Verfassungsschutz, die unsere Berichte als verlässliche Quelle nutzt.